Bei Frühlingsopfer umspielt LUCAS NIGGLI mit seinem Schlagzeug Gedichte und Prosa von GERTRUD LEUTENEGGER.
Aus dem Band „Wie in Salomons Garten“ und aus „Das Klavier auf dem Schillerstein“ und aus dem Mund von Désirée Meiser, der schauspielerfahrenen künstlerischen Leiterin des Bahnhofs für Neue Musik in Basel, Gare du Nord. Sie teilt auch, im Interview mit dem Tagblatt, mit “Dass mich Musik mehr elektrisiert als die gesprochene Sprache. Die Musik als Kommunikator, als Inhaltstransporteur, gibt einen ganz anderen Raum” die Raison d’Etre von Sound)))lit. Leutenegger, der Rhythmus alles bedeutet, geht mit Nigglis metallo-tachistischem, holzig klackenden
oder knarrenden, dynamisch schellenden, klickenden, singenden, klingelnden, dröhnenden, polternden Surplus vollkommen d’accord. Und unterstreicht ihrerseits, dass Musik die durch die Sprache evozierte Welt, die bei ihr bestimmt ist durch wildromantische Beherztheit und unbedingten Lebenshunger, ausweiten kann ins Unerschöpfliche. Lucas Niggli funkelt die Sterne über dem Novalis-dunklen ‘Nachtstück’ und dessen fahl flackernden, finster donnernden Resonanzen im Inneren, über den ‘Ruinen’ der schwindenden Gletscher. Das zwischen dem Tod
des Vaters und eigener Lebenslust schwankende ‘Frühlingsopfer’ beklopft er strawinskiesk. Wie Novalis hat Gertrud Leutenegger ein Ohr für Sphärenklänge und Akkorde aus des Weltalls Symphonie, für verstümmelte, verstummende Zungen, wie der Rimbauds, der 1878 den Gotthardpass überquert hat – Ziel: Ägypten, um die Poesie und das tunnelwühlende Europa hinter sich zu lassen. Leutenegger hält an der Poesie fest, sie verzögert mit prosaischen Lyrismen das Verschwinden, durch Erinnerungen an Treppenhäuser, Zitronenfalter, Verstorbene, die eigene Lächerlichkeit, das Gesicht der Mutter… mit dem leisen Schuldgefühl der noch Anwesenden vor der Abwesenheit.
Rigobert Dittmann, Bad Alchemy, November 2021